suchtselbsthilfe

 

Die Anfänge der Suchtkrankenhilfe

Warnungen vor den Folgen der Trunkenheit sind bis in die Antike zurückzuverfolgen. Im 16. Jahrhundert gab es erste „Mäsigkeitsvereine“. Ein Dogma dieser Mäsigungsvereine lautete, dass die Mitglieder zu den Mahlzeiten nicht mehr als sieben (!) Becher Wein trinken sollten. Das Muster der „Alkoholabhängigkeit“ oder die Vorstellung von Sucht als einem Krankheitsbild tauchte erst Ende des 18.Jahrhunderts auf und war wohl einerseits dem „Geist der Zeit“, andererseits den Fortschritten der Medizin, Biologie und Chemie geschuldet. Die Psychiatrie begann das Phänomen der Suchtkrankheit wissenschaftlich zu erforschen. Zeitgleich ging die Innere Mission daran, Trinker zu heilen und erste „Trinkerheilstätten“ einzurichten.

1784 entstanden unter dem Eindruck der Schriften des Arztes und Politikers Benjamin Rush erste Mäsigungs- und Temperenzbewegungen (Abstinenzbewegung) in den USA. Diese bezogen sich anfangs allein auf die soziale und politische Elite des Landes, auf Ärzte, Pfarrer, Politiker und Geschäftsleute. Etwa ab 1830 wurde dann auch die breitere Schicht des amerikanischen Mittelstandes in die Mäsigungsbewegungen einbezogen.

Im Jahre 1851 wurde in Utica, New York, die „Internationale Organisation der Guttempler“ gegründet, deren Hauptanliegen schon damals die Rehabilitationsarbeit für Menschen mit Alkoholproblemen war.

1935 gründete sich ebenfalls in den USA die erste Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker, die 1996 in mehr als 146 Ländern der Erde rund 90.000 Gruppen mit insgesamt über 1,8 Millionen Mitgliedern zählte.

In Deutschland fallen die Anfänge einer organisierten, gegen den Alkohol gerichteten Bewegung mit nennenswertem Einfluss in die dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Ihre Verbreitung begann in den evangelischen Provinzen Preußens zur Zeit Friedrich Wilhelm III. 1837 wurden erste Enthaltsamkeitsvereine gegründet, die einen „Kreuzzug gegen den Branntwein“ führten. 1845 begann die Anti-Alkoholbewegung allerdings zu stagnieren und fand im Revolutionsjahr 1848 ihr vorläufiges Ende. Erst rund vierzig Jahre später erlebte die organisierte Anti-Alkoholbewegung in Deutschland einen neuen Aufschwung. 1883 wurde in Kassel der „Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke“ gegründet. Das Ziel dieses Vereins bestand nicht in der völligen Enthaltsamkeit vom Alkohol, sondern in der strengen Mäsigung beim Konsum. 1890entstand auf Anregung des Schweizer ProfessorsAugust Forel der „Internationale Verein zur Bekämpfung des Alkoholgenusses“, dessen Grundlage die Anerkennung der unbedingten Alkoholenthaltsamkeit durch seine Mitglieder war.

Während die „Trinkerrettung“ und „Trinkerfürsorge“ in Deutschland ab Mitte des 19. Jahrhunderts ihr Leitbild vorwiegend im fürsorgenden wie im erziehenden Denken und Handeln fand, erkannten auch die Männer und Frauen, die 1885 das Blaue Kreuz gründeten, dass nur die völlige Enthaltsamkeit vom Alkohol zur Befreiung von der Sucht führen konnte. Analog zum Blauen Kreuz entstand auf katholischer Seite 1896 der Kreuzbund; die Guttempler nahmen ihre Arbeit 1889 in Deutschland auf.

1902 gab es in Deutschland etwa zehn abstinente Arbeitervereine. 1903 wurde der „Deutsche Arbeiter-Abstinenten-Bund“ ins Leben gerufen. Im selben Jahre wurde „Der Abstinente Arbeiter“ als Organ des Deutschen-Abstinenten-Bundes herausgegeben. 1912 hatten sich 20.000 abstinent lebende Menschen organisiert, 2.500 davon gehörten dem Deutschen Arbeiter-Abstinenten-Bund an.

An diesem Punkt ist anzumerken, dass die Abstinenzverbände jener Zeit und bis weit in dieses Jahrhundert hinein Hilfe für Menschen leisteten, die Alkoholprobleme hatten; sie bekpften dabei in erster Linie die Folgen und Auswirkungen des Alkoholmissbrauchs. Mit ihren Bemühungen unternahmen sie etwas für andere – sie leisteten Fremdhilfe.

Wandlungen im Selbstverständnis der Abstinenzverbände

Von Suchtkrankenhilfe wird in Deutschland offiziell erst gesprochen, seit durch ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1968 Alkoholismus als Krankheit anerkannt wurde. Seit den sechziger Jahren, insbesondere sei Anerkennung der Alkoholsucht als Krankheit, ist eine zunehmende Professionalisierung der Suchthilfe zu beobachten gewesen. Einerseits wurden im Laufe der Jahre die historisch gewachsenen, unterschiedlichen Versorgungsstränge langsam zu einem Gesamtkonzept zusammengeführt. Andererseits wurden sie differenziert, qualifiziert und erweitert. So entstand ein System der Suchtkrankenhilfe, das bis heute auf drei Säulen fußt: Beratung, Therapie und Nachsorge. überwiegend wurde dieses System durch die freie Wohlfahrtspflege organisiert.

Die Professionalisierung der Suchthilfe zwang die Abstinenzverbände sowohl ihr Selbstverständnis als auch ihre Stellung im Suchtkrankenhilfesystem zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern. Aus den Abstinenzgemeinschaften wurden im Laufe der Jahre Selbsthilfeorganisationen und Helfergemeinschaften.

Der Kreuzbund und die Guttempler betonten zunehmend den Selbsthilfegedanken. Neue Zusammenschlüsse wie die Freundeskreise sind als „reine“ Selbsthilfegruppen zunächst ohne Anbindung und Verbandstraditionen hinzugekommen. Heute sind sie in Landesverbänden und im Bundesverband organisiert bzw. sind Mitglieder in den Diakonischen Werken. Im Bereich der illegalen Drogen schlossen sich Eltern drogenabhängiger und –gefährdeter Jugendlicher zu Elternkreisen zusammen.

Während der Selbsthilfegedanke bei den Anonymen Alkoholikern von Beginn an die entscheidende Rolle im Hilfekonzept spielte, rückte in den Abstinenzverbänden der Gedanke der „Hilfe zur Selbsthilfe“ in den siebziger Jahren und später zunehmend in den Mittelpunkt methodischer Überlegungen. Fand sich früher der Abhängige oft in der Rolle eines Objekts, dem man – aus welchen Motiven auch immer – helfen musste, so zielt die Selbsthilfe darauf, dass der Kranke wieder zum Subjekt wird. Zu einem Menschen, der sich selbst annimmt, der selbst an seiner Krankheit arbeitet, der selbst für seine Genesung verantwortlich ist, der selbst mit seinem Leben zurechtkommt. Dorthin aber ist es für jeden Suchtkranken ein weiter Weg; suchtkranke Menschen müssen erst wieder lernen, sich selbst zu helfen. Dabei hilft die Hilfe zur Selbsthilfe.

Unterstützt wurde die Wende zur Selbsthilfe durch die politische und gesellschaftliche Anerkennung und Förderung der Selbsthilfe im gesamten Gesundheitsbereich.

Die Empfehlungsvereinbarungen zur Behandlung Suchtkranker, die 1978 zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und Rentenversicherungsträger beschlossen wurden, führten ebenfalls zu Änderungen im Hilfesystem wie in der Selbsthilfe. Vor allem die Empfehlungsvereinbarung zur Nachsorge aus dem Jahre 1986 löste eine Diskussion über den Stellenwert der Selbsthilfe aus. Die Erkenntnis, dass „eine Entwöhnungsbehandlung ohne nachfolgende Nachsorgephase fast wertlos“  ist, machte die Selbsthilfegruppen zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Behandlungsverbundes, insbesondere für den Bereich der Nachsorge. Implizit wurde hier anerkannt, dass die Betroffenen-Kompetenz einen hohen Stellenwert im therapeutischen Verbund hat.

Die Bedeutung der Selbsthilfe allein in der Nachsorge zu sehen, griffe allerdings viel zu kurz, denn die Selbsthilfe wird von Abhängigen nicht allein vor, während und nach einer Therapie angenommen. Oftmals - hier besonders im Bereich der Alkoholabhängigkeit - ist die Selbsthilfe auch die einzige in Anspruch genommene Hilfe auf dem Weg aus der Sucht.

Wo steht die Suchtselbsthilfe heute?

Selbsthilfe im Suchtbereich ist vorrangig im Bereich der legalen Suchtmittel Alkohol und Medikamente etabliert. Zunehmend gibt es Selbsthilfegruppen für pathologische Glücksspieler, Ess- und Brechsüchtige.

Die fünf großen Abstinenzverbände 

– Blaues Kreuz in Deutschland (BKD),

– Blaues Kreuz in der Evangelischen Kirche (BKE),

– Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe – Bundesverband,

– Kreuzbund – Bundesverband,
-  Guttempler in Deutschland

repräsentieren ca. 5.000 Gruppen mit rund 90.000 Gruppenteilnehmern.

Zählen wir noch die Gruppen der Anonymen Alkoholiker, die Gruppen, die unter dem Dach der Arbeiterwohlfahrt und des Deutschen Roten Kreuzes laufen sowie freie Sucht-Selbsthilfegruppen oder Gruppen, die durch Beratungsstellen betreut werden, hinzu, existieren bundesweit etwa 8.000 Suchtselbsthilfegruppen mit ca. 150.000 Teilnehmern.

Alle Verbände sind gemeinnützige, eingetragene Vereine.

Die drei erstgenannten Verbände arbeiten unter dem Dach der Diakonie; der Kreuzbund ist mit der Caritas verbunden und die Guttempler in Deutschland haben sich dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband angeschlossen. Die Guttempler in Deutschland und das Blaue Kreuz in Deutschland sind darüber hinaus in internationalen Organisationen eingebunden.

 Was verbindet und unterscheidet die Suchtselbsthilfegruppen?

Alle Suchtselbsthilfegruppen sind Gemeinschaften von Suchtkranken und deren Angehörigen, die sich zum Ziel gesetzt haben, Suchtkranken und ihrem sozialen Umfeld zu helfen, eine dauerhafte Abstinenz zu erreichen. Die Selbsthilfe ist eine Entdeckung von Betroffenen, die mit anderen die gemeinsame Suchtproblematik behandeln wollen. Die persönlichen Beziehungen und Freundschaften geben den notwendigen Halt; die Gemeinschaft der Selbsthilfe – ob als Gruppe oder Verband – ermöglicht es, eine zuverlässige Lebensorientierung zu finden und bietet darüber hinaus eine fortwährende Neubesinnung auf die Werte an, die das Leben (wieder) lebenswert machen.

Das Prinzip, nach dem Hunderte von Suchtselbsthilfegruppen in ganz Deutschland arbeiten, lässt sich bündig formulieren: „Hier hilft nicht einer dem anderen und der wieder ihm; vielmehr hilft jeder sich selbst und hilft dadurch dem anderen, sich selbst zu helfen.“

War zu Beginn der Selbsthilfebewegung das Erreichen einer zufriedenen und dauerhaften Abstinenz der Betroffenen das erste, wenn nicht sogar alleinige Ziel der Arbeit, so hat sich das Aufgabenfeld der Suchtselbsthilfe in den letzten Jahren zunehmend erweitert. Selbsthilfegruppen haben heute auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe und Verantwortung übernommen.

Längst meldet sich die Selbsthilfe zu Wort, wenn es um Fragen der Gesundheits- und Sozialpolitik geht. Das geschieht auf bundes-, landes- und lokalpolitischer Ebene gleichermaßen. Suchterkrankungen sind eben keineswegs nur das Problem der Betroffenen, der Angehörigen und Freunde, sondern ebenso ein gesellschaftliches, ökonomisches und – denkt man an die Ausgrenzung von Suchtkranken – wohl auch ethisches Problem. Dieser Einsicht trägt auch die Suchtselbsthilfe zunehmend Rechnung, indem sie an den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Diskussionen im Zusammenhang mit der Suchtproblematik teilnimmt und wichtige Akzente setzt.

 Nicht zuletzt dieser neue, gesellschaftspolitische Anspruch führte dazu, dass sich zahlreiche Selbsthilfegruppen bestehenden Abstinenz- und Selbsthilfeverbänden angeschlossen oder sich zu eigenen Verbänden organisiert haben. Es geht auch darum, das gesellschaftspolitische Gewicht der Suchtselbsthilfe zu vergrößern und Kräfte und Ressourcen zu bündeln. Dies trifft besonders auf die fünf Abstinenzverbände zu, die über ihre Hauptträgergruppen Mitglied in der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen sind.

Mitglieder aus Gruppen der fünf Abstinenzverbände, der AWO und des DRK entwickeln sich zu ehrenamtlichen Helfern. Sie nehmen an Aus- und Weiterbildungen zum Suchtkrankenhelfer teil und arbeiten in ihrer Freizeit in der Suchtkrankenhilfe mit.

Allen in der Suchtselbsthilfe tätigen Verbänden und Gruppen ist gemeinsam, dass sie mit ihren ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitern die Rahmenbedingungen sichern, in denen sich Suchtselbsthilfe entwickeln kann. Sie verfolgen damit weitergehende Selbsthilfeziele, wie Information der Betroffenen, Öffentlichkeitsarbeit, Fort- und Weiterbildung, Gesetzesänderungen und Änderungen bei den Leistungsträgern zugunsten der Abhängigkeitskranken.

 (Quelle: DHS Info Suchtkrankenhilfe 2/2001)

Freundeskreise

Die Entwicklung der Freundeskreise begann in Württemberg. Hier gründeten 1956 ehemalige Patienten aus Fachkrankenhäusern der Diakonie die ersten „Freundeskreise“ als Selbsthilfegruppen für Alkoholiker. Ab 1967 entstandenen die ersten Landesverbände der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe; 1978 wurde der Dachverband auf Bundesebene, mit Sitz in Kassel gegründet, der heuten den Namen „Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe – Bundesverband e. V. trägt.

Der Name „Freundeskreis“ (wörtlich: ein Kreis von Freunden) kennzeichnet die Gruppe als Gemeinschaft. Freundschaft ist ein Geschenk. Ein Freund ist ein Mensch, der mich versteht, mich annimmt und nicht gleich bewertet. Freundeskreis-Gemeinschaften sind ein Übungs- und Lernfeld für das Leben im Alltag und ermöglichen die persönliche Neuorientierung und Sinnfindung des Lebens. Persönliche Beziehungen und Freundschaften sollen zur Stabilisierung der Persönlichkeit beitragen und die Grundlage zur dauerhaften Abstinenz schaffen. Angehörige und andere Bezugspersonen werden in die Gruppenarbeit einbezogen, denn von einer Suchtkrankheit sind die gesamte Familie und das nähere Umfeld betroffen.

Die Freundeskreise kennen keine schriftliche Verpflichtung zur Abstinenz. Vielmehr soll der Schritt in ein abstinentes Leben aufgrund einer freien Entscheidung des Betroffenen und seiner Angehörigen geschehen.

Die Freundeskreisarbeit ist nicht konfessionell gebunden, richtet sich aber an christlichen Grundwerten aus.

Freundeskreise sind in allen Regionen Deutschlands entstanden. Sie verstehen sich als Teil des Behandlungsverbundes in der Suchtkrankenhilfe, arbeiten mit den niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern, Fachkliniken, Beratungsstellen und anderen für den Betroffenen zuständigen Behörden oder Ämtern zusammen. Sie übernehmen damit Aufgaben in der Vorsorge und Motivation, begleiten Suchtkranke und ihre Angehörigen zu Beratungsstellen und Fachkliniken sowie in der Zeit der Behandlung und stellen nach einer Behandlung den Anschluss an die Selbsthilfegruppe und damit die „Nachsorge sicher“.

 

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